Rezension auf Kaliber 38

Der Krimi-Papst Thomas Wörtche über Peter Grandls Turmschatten:
Ein ganz und gar bemerkenswertes Buch ist Turmschatten von Peter Grandl (Das Neue Berlin). Der titelgebende Turm ist ein alter Hochbunker aus dem 2. Weltkrieg, irgendwo am Rand einer süddeutschen Kleinstadt. Schon im Januar 1945 war er Schauplatz einer Tragödie mit Hunderten von Toten – Menschen, die bei einem Luftangriff nicht in den Bunkern reinkonnten, und vor dessen Toren von Bomben zerfetzt wurden. Jetzt, der Roman spielt 2010 und ist 2015 entstanden, hat der reiche jüdische Geschäftsmann Ephraim Zamir den Turm gekauft und sich nach seinen Bedürfnissen ausgebaut. Zamir ist ein Holocaust-Überlebender, der nach einem anstrengenden Leben irgendwie seinen Frieden mit der Welt machen will, hilfreich und gut. Er will eine große Summe für eine neue Synagoge in der nächsten Großstadt (gemeint ist wohl München, ist aber egal) spenden und stellt eine junge, traumatisierte Frau aus Israel als Haushälterin ein. Alles wäre gut, wenn es da nicht die NPD und angeschlossene Jungnazis gäbe, die etwas gegen die neue Synagoge haben. Drei hartgesottene Nazis und ein rotzdummer minderjähriger Bengel dringen in den Turm ein, um Zamir eine Lektion zu verpassen – der ist nicht zuhause, wohl aber seine Haushälterin, die der Rotzbengel erschießt und panisch davonläuft. Die drei anderen Strolche schnappt sich der zurückkehrende Zamir – denn der war, so lernen wir, ein hochspezialisierter Killer des Mossad. Zamir raucht vor Wut und baut ein Racheszenario auf, das ungeheuerlich erscheint. Per live stream überträgt er die peinliche Befragung der Nazis – die Zuschauer sollen entscheiden, ob sie hingerichtet werden oder leben bleiben dürfen. Natürlich wird die Angelegenheit zum Medienspektakel, die Polizei rückt an, später gar die Bundeswehr, um den Turm zu stürmen. Aber Zamir ist sehr clever. Und mehr darf man nicht erzählen, Spoiler, y’know. Das wirklich Irre an diesem ziemlich irren Buch ist, dass Grandl, bei aller anscheinenden Voraussehbarkeit und auch jeder schlimmen Befürchtung, immer noch gerade die Kurve kriegt. Live-Foltern und Hinrichten, das riecht nach Gewaltporn, der Mossad im Hintergrund, das riecht nach Verschwörungsthriller, der wahnsinnige jüdische Nazi-Jäger, das riecht nach einem sehr fatalen Narrativ – und die, sagen wir, bemerkenswert unambitionierte Sprache, die manchmal hart am Kitsch schrammt, verspricht zunächst auch nichts Gutes. Und dann hat man plötzlich 300 Seiten gelesen und weiß, das wird eine lange Nacht. Denn Turmschatten ist unfasslich spannend, ein Page Turner, bei dem sogar die Flashbacks (jede Figur bekommt ihren Hintergrund) interessant sind. Überall ist die aktuelle Zeitgeschichte eingewoben, eine chronique scandaleuse des rechtsradikalen Terrors in der Bundesrepublik, schon lange vor der AfD (deswegen steht die damals erstarkende NPD im Fokus), dessen Kontinuität in diesem Land – und die beschämende Nichtreaktion der »Sicherheitsbehörden« und der Politik, die auch in der aktuellen Handlung ihr Fett abbekommen. Von großartiger, bitterböser satirischer Qualität sind die Szenen des Romans, die im Privatsender TELE PRO spielen, der die besten Einschaltquoten ever mit seiner widerlich voyeuristischen Berichterstattung erzielt. Und das pp Publikum, das dringend gierig sabbernd eine Live-Hinrichtung sehen will, kommt auch nicht gerade gut weg. Sie haben es sicher bemerkt: Die einzelnen Bauteile des Romans sind nicht unbedingt originell und innovativ. Was Grandl daraus amalgamiert, schon. Es ist ein bisschen wie mit der Marxschen Akkumulation – wenn genügend Topoi und Klischees exzessiv aufgehäuft sind, bricht das Gebilde zusammen, und etwas überraschend Neues entsteht. Aus den Klischees entwickeln sich plötzlich differenziertere Bilder, Hysterie und Paranoia gehen die Luft aus, wobei die antifaschistische Grundierung des Romans jederzeit Bestand hat. Ein Hammer-Buch, letztendlich.